Buchcover und Portraitfoto von Guillaume Paoli. Fotos: © Matthes & Seitz Berlin; © Renate Kossmann
Mit der Hartleibigkeit Macrons im Rentenstreit eskaliert die soziale Frage in Frankreich. KAB-Referent Markus Grill hat sich daher auf die Spuren der Gelbwesten begeben. Die etwas andere Buchrezension zu einer uns unbekannten Protestform.
Die sogenannten Gelbwestenproteste nimmt Guillaume Paoli aufs Korn. Der französische Philosoph und Autor, der auf Deutsch publiziert und in Berlin lebt, setzt sich dabei mit den Gilets Jaunes, wie die Gelbwesten in Frankreich genannt werden, auseinander. Er macht dies mit Objektivität und entwickelt dabei trotzdem eine gewisse Sympathie für die Anliegen der Bewegung, den Abgehängten, den prekären Servicekräften und den schlecht bezahlten Working Poor im Frankreich des Postkapitalismus eine Stimme zu geben. Ihre Forderungen sind recht einfach und klar: Mehr gesellschaftliche Achtung und Gerechtigkeit, sowie bessere Lebensbedingungen.
Auch in Frankreich glaubte man in den frühen 2010er Jahren in einer „posthistorischen Modernität“ angekommen zu sein. Der Gegensatz von rechts und links schien dabei nivelliert worden zu sein. Die Linke hatte sich vermeintlich atomisiert in einer Zeit nach Präsident Francois Hollande. Unter Macron und Merkel hatte sich das Perpetuum Mobile des Wachstumsparadigmas in Europa endgültig zu einer alles erklärenden Weltformel aufgeschwungen. Eine Entwicklung, die in ihren Anfängen allerdings weiter zurückgeht, als unter den europäischen Staatschefs Schröder, Blair oder Sarkozy.
Dass dabei die grundlegenden Probleme nicht gelöst wurden, dass der Abstand zwischen Arm und Reich seit den 90er Jahren wieder kontinuierlich größer wurde und wird: All dies wird in einer Welt West- und Mitteleuropas, die nur zwei Drittel der Menschen mitnimmt, immer weniger wahrgenommen. Die sozialdemokratischen, grünen und sozialliberalen Parteien Europas fremdeln dabei zunehmend mit ihren ehemaligen klassischen Milieus: Den Arbeitnehmenden der unteren Mittelschicht.
Sie bieten auf klassische Umverteilungsfragen oft nur noch ausweichende Antworten, führen lediglich sozialstaatliche Rückzugsgefechte, fokussieren sich auf vermeintlich jüngere Themen, beschränken sich deshalb oft auf Spartenfragen, wie gesundes Essen, faire Sprache, Inklusion und Integration. Oft Partikularinteressen von kleineren Gruppen. Wichtig zweifellos. Aber doch meist nur Symptompflege einer Gesellschaft, wo es an anderer Stelle noch weit mehr stinkt.
Sie beschränken sich bei der ökologischen Frage rein auf dieses Thema und vergessen, dass diese nur zusammen mit der sozialen Frage lösbar ist. Sie hinterlassen dabei oft ein Gefühl bei Betroffenen von Armut, sozialer Unsicherheit und unbezahlbaren Mieten, dass diese nicht mehr dazu gehören, dass sie übervorteilt werden, weil sie nicht flexibel und wendig genug für die neue Zeit scheinen.
Die klassisch sozial linksstehenden nichtakademischen Milieus sind oft gleichzeitig gesellschaftlich konservativ. Zumindest solange ihre Kernprobleme nicht angegangen werden, fühlen sie sich ausgegrenzt und in Teilen massiv auf den Arm genommen, so die Zusammenfassung der Analyse Paolis, der hier in vielen Bereichen den Ansätzen und Forderungen der KAB nicht ganz fern zu stehen scheint.
Paoli geht dabei in seinem Buch über die Gilets Jaunes auch auf die Frage ein, dass die beiden Gesellschaften der Bundesrepublik und Frankreichs auf diese Dilemmata komplett unterschiedlich reagieren. Er beschreibt dabei den französischen Zentralismus mit den kleinen, wenig selbständigen Verwaltungseinheiten als Problem und Brandbeschleuniger, aber auch gleichzeitig als die Lösung, wenn es um die Selbstorganisation der Proteste, ihre ungewöhnliche Struktur geht.
Er skizziert die Organisationsform der Gelbwesten (dort, wo sie am meisten Wirkung entfaltet haben) als unabhängig von bestimmten Großorganisationen wie Parteien und Gewerkschaften. Er beschreibt den kollektivistischen Ansatz, bei dem Menschen, die sich organisiert haben, bewusst eine Einvernahme durch die Medien, durch rechte Populisten, aber auch andere etablierte Interessengruppen im Großen und Ganzen verhindert haben. Teilweise aus Instinkt, teilweise durch schlechte Erfahrungen klug geworden.
Paoli erläutert dabei auch den gescheiterten Versuch der deutschen Rechten, diese Bewegung für Pegida, Querdenker und andere irrlichternde Ungeister zu kapern. Er zeigt auf, dass die mediale Darstellung der Gelbwesten als dummen rechten Bodensatz der Gesellschaft, der nur die liberalen Segnungen der Latte-Macchiato-Generation noch nicht begriffen hat, eine üble Verleumdung ist.
Diese Verleumdung wurde besonders gerne in deutschen Talkshows und Feulletons abgefeiert. In Frankreich bis zu einem gewissen Punkt wurde ebenfalls der Versuch unternommen. Dort hatte er nur weniger gut in der Mehrheitsmeinung verfangen, da viele Menschen im Bekanntenkreis, im Heimatort, in ihrer eigenen Umgebung mitbekamen, was davon alles nicht der Wahrheit entsprochen hatte.
Wo man mit einem lachenden Auge sagen kann, dass die Kaperung durch Rechts gerade nicht geklappt hat, stellt der Autor aber mit einem weinenden Auge auch die Frage, warum die Gelbwestenproteste auch sonst im Großen und Ganzen auf Frankreich beschränkt waren und in Zeiten von umstrittenen Freihandelsabkommen, von Brexit und Flüchtlingskrise nicht auf andere Länder Europas übergegriffen haben, deren soziale Defizite ähnlich gelagert sind.
Das spannende Büchlein nimmt auch die gesamte Entwicklung der Protestbewegung aufs Korn, es skizziert die Ängste der herrschenden Politikklasse um Präsident Emmanuel Macron, die als Kopfkino bereits die Revolutionszeit Frankreichs um 1793 wiederkommen sahen. Und es beschreibt, wie hart die französischen Sicherheitskräfte gegen die überwiegend friedlich verlaufenden Aktionen und Blockaden vorgegangen sind. Wie viele Augen und Finger von Demonstranten den eingesetzten Gummigeschossen zum Opfer gefallen sind. Wie oft alleine Reizgas bei Menschen bleibende Schäden hinterlassen hat. Körperlich und teilweise auch psychisch.
Guillaume Paoli zieht eine gemischte Bilanz, wenn es um die Ergebnisse dieser sozialen Massenerhebung geht. Er schreibt der Regierung Macron mit ihren Männerbünden in Industrie und Hochfinanz ins Stammbuch, in den Jahren 2018/19 auf dem Höhepunkt der Proteste eine rechtliche Sicherheitsarchitektur installiert zu haben, die im Falle einer Wahl einer rechtspopulistischen Präsidentin wie Frau Le Pen dem Land aber auch der gesamten EU große Probleme machen dürfte. Die es einer weniger demokratisch gesinnten Regierung sehr leicht machen könnte, Frankreich sehr schnell in einen totalitären Staat zu verwandeln.
Paoli sieht aber auch einen Hoffnungsschimmer. Er zeigt auf, dass die vermeintliche Entpolitisierung der Massen durch Konsum, Online-Mediengenuss und gesellschaftliche Fragmentierung nicht komplett funktioniert hat. Er beweist, dass es immer noch möglich ist, Menschen mit der sozialen Frage sowie Gerechtigkeitsthemen auf die Straße zu bekommen und eine Regierung, eine Öffentlichkeit zu zwingen, Entscheidungen zu korrigieren. Zumindest hat er diese Hoffnung für Frankreich.
Ich habe mich festgelesen in der „sozialen Gelbsucht“ und hatte das Buch an drei Abenden durch. Guillaume Paoli skizziert eine Gesellschaft, die verlernt hat, friedliche Protestformen als legitimes Mittel des demokratischen Diskurses zu betrachten. Eine Gesellschaft, die medial und reflexartig Etiketten verteilt und damit inhaltlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen mag, weil sie diese verachtet. Weil sie Konsenssuche ohne Einbeziehung langfristiger Perspektiven bereits zu einem Qualitätsmerkmal stilisiert.
Aber auch eine Gesellschaft, die noch immer zu unerwarteten Reaktionen fähig sein kann.
Markus Grill
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