Bild: Iván Tamás/Pixabay.com
Wie wäre es, die Bibel ernst zu nehmen, ihrem Vorbild zu folgen, Macht völlig neu zu ordnen? KAB-Diözesanpräses Michael Wagner fragt dies mit Blick auf die kirchliche Dienstgemeinschaft und die Chance, dort Demokratie und Diskurs zu leben.
Die folgende Predigt bezieht sich auf die Heilung eines Besessenen nach dem Markusevangelium. Dieses Evangelium Markus 5,1-20 können Sie hier nachlesen (PDF-Download). KAB-Diözesanpräses Michael Wagner hielt diese Predigt am 28.10.2022 im Rahmen der kifas-Fachtagung „Dienstgemeinschaft zwischen Macht und Partizipation“.
Eine neue Folie der Macht.
Das Markusevangelium als Gegenentwurf weltlicher Macht
als Vorbild für die kirchliche Dienstgemeinschaft.
Mitten im Rom, Herz und Zentrum des damaligen Weltreiches, entstand etwa im Jahr 70 das Markusevangelium. Dabei erlebte Rom gerade etwas völlig Neuartiges. Mit Vespasian wird ein Flavier Kaiser, der keinerlei göttliche Ahnen vorweisen kann. Um diesen eklatanten Mangel auszugleichen, setzt er den gesamten Apparat antiker Propaganda in Bewegung: Die Prägungen der Münzen enthielten die Schlagzeilen der Antike. Sie priesen ihn unentwegt als „Sohn Gottes“, divinus filius, im Lateinischen oder hos theos uious im Griechischen.
An allen Ecken und Enden tönt die Frohe Botschaft, das Evangelium, euangelion, das Vespasians Vollmachten verkündet. Das Kolosseum und andere Prunkbauten werden errichtet, das Reich mit neuen Straßennetzten durchzogen. Gar als Wunderheiler wird Vespasian gepriesen. Er habe einen Blinden geheilt, indem er ihm Speichel in die Augen rieb, einen Lahmen, indem er dessen Beine mit seiner bloßen Fußsohle berührte.
Inmitten des Zentrums dessen Machtinszenierung, geprägt von der damaligen Propaganda, die einen göttlichen Kaiser vorstellt, der von oben herab nach unten herrscht, entwirft das Markusevangelium ein Gegenbild. Um einen deutlichen Kontrapunkt zu setzen, nimmt es die Begriffe, Bilder und Zeichen auf, die vom mächtigen Kaiser und Militär erzählen.
All die verwandten Worte, die erzählten Wunder, vollzogenen Zeichen, die uns heute so geläufig sind, waren ursprünglich römisch besetzte Begriffe, die Markus aufnimmt, um einen Kontrapunkt zu setzen. Wären wir heute Römer von damals, würden wir die subtile Kritik hören, die offen aus den Worten des Evangelisten spricht. Das Markusevangelium, die frohe Botschaft des Sohnes Gottes, nimmt es mit der kaiserlichen Machtdarstellung auf, um Christus als dessen Gegenbild zu offenbaren.
Christus, der wahre König der Welt besitzt eine Macht, die völlig anders geartet ist und eine völlig andere Quelle besitzt, als es beim römischen Kaiser ist. Das zeigt etwa die Wunderheilung des Besessenen von Gerasa. Um dessen unheimliche Kraft zu beschreiben, die er besitzt, verwendet Markus das Wort Dynamis. Unter Dynamis wird eine Kraft verstanden, die einer Person oder Gegenstand innewohnt. Beim Besessenen ist sie so groß, dass jeder Widerstand gegen sie aussichtslos ist. Dynamis wird so auch häufig in der Bibel verwendet, in den Evangelien werden damit die Wunder bezeichnet, die Jesus vollbracht. Die Römische Armee galt ans unbezwingbar, so glich es auch einem Himmelfahrtskommando, sich gegen sie aufzulehnen.
Der Besessene wirft sich vor Jesus nieder, ganz so, wie es bei einem römischen Tribunal möglich war, um ihn als „Sohn des höchsten Gottes“ zu huldigen. Das klingt nach Vielgötterei, das entsprach dem römisch-heidnischen Pantheon, das hier übertroffen wird: Sohn des höchsten aller Götter.
Bei dem Befehl Jesu Verlass ihn! Wäre jeder römische Soldat strammgestanden, hätte aufgehorcht, um zu gehorchen: Befehl und Gehorsam, streng von oben nach unten, so funktionierte die römische Staatsmacht. Der Name des Geistes, Legion, denn wir sind viele, hier verwendet Markus wieder Militärsprache, die im Alltag fest verankert war. Ganz eindeutig der Hinweis: Der Dämon ist heidnischer Herkunft, er ist römischen Ursprungs.
Selbst in den 2.000 Schweinen verbirgt sich ein raffinierter Hinweis. Eigentlich umfasst eine Legion 5.000 Mann. Aber beim jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus findet sich eine rätsellösende Notiz: In Syrien befindet sich der Feldherr Cestius, der seine Legionen aufstocken muss. Dazu wählt er 2.000 Männer aus anderen Legionen aus. Es handelt sich um eine Elitegruppe, der besten und kampfstärksten Soldaten. Eine dieser Legionen belagert später Jerusalem und Masada, unterwirft die jüdischen Heere und wird Besatzungsheer in Israel. Ihr Feldzeichen ist der Eber. Das unreine Schwein steht für die Soldaten, die tiefe Spuren der Ohnmacht, der Drangsal und Unterdrückung verantworteten.
Jesus befreit mit seiner Vollmacht, den Besessenen von den starken Kräften, die ihn in Ketten legten und ihm das Leben raubten, so dass er nur noch in Grabstätten vegetieren konnte. Zugleich ertränkt er diese heidnische Macht, mitsamt den Schweinen: All die Macht der Unterdrücker überwindet er, löst die Ketten. Sowohl der vom Geist besessene als auch das von einer Fremdmacht besetzte Land sind frei.
Unterdrückung, strikter Gehorsam, finanzielle Auspressung, so herrscht der Kaiser von oben nach unten hinab. Der wahre Gottessohn dagegen herrscht auf Augenhöhe, durch Zuwendung sowie Barmherzigkeit. Das älteste Evangelium ist die Erzählung eines Gegenentwurfs zur geltenden weltlichen Macht. Entgegen der römischen Propaganda, die die Wunder des Kaisers laut tönend verbreitet, gebietet Jesus zu schweigen.
Erst am Ende des Evangeliums wird seine Macht öffentlich bekannt: Es ist ein römischer Centurio, wieder der lateinische militärische Fachbegriff, der verkündet: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn. Im tiefsten Augenblick seiner Ohnmacht, am Kreuz sterbend, verhöhnt von den Soldaten, verlassen von seinen Jüngern, offenbart sich der höchste Augenblick seiner Macht.
Markus wählt die Zeichen der Macht, um ihre wahre Ohnmacht darzustellen. Seine Herrschaft stellt die Machtverhältnisse auf den Kopf.
Ist es angesichts dessen nicht geradezu paradox, dass die heutige Hierarchie ein Gegenbild heutiger demokratischer Staaten darstellt? Ist Rom damals wie heute ein Machtzentrum, das der Freiheit des Menschen nicht wirklich Gutes verheißt?
Wie wäre es, wenn Rom heute dem Markus folgen würde? Herrschaft auf Augenhöhe üben: Anstatt mit erkalteten Traditionen zu argumentieren, den Bedürfnissen der Menschen mit wärmender Zuwendung zu folgen. Anstatt nach militärischen Vorbild auf Rang und Stand zu achten, die Kirche hat neben dem Militär die meisten Titel und Ränge, mittels Befehl und Gehorsam zu regieren, menschlich aufeinander zu reagieren.
Wie wäre es, die Bibel ernst zu nehmen, ihrem Vorbild zu folgen, Macht völlig neu zu ordnen? Indem kirchliche Dienstgemeinschaften Institutionen wären, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, gemeinsam Macht gestalten. Wo sollen denn Menschen zur Demokratie sowie zum Diskurs befähigt werden, wenn nicht an dem Ort, an dem sie die meiste Zeit verbringen: An der Arbeitsstelle.
Kirchliche Dienstgemeinschaften könnten Lernräume darstellen, in denen fachliche aber auch menschliche Qualifizierung stattfindet. Wenn Menschen auf der Arbeit nur Gehorsam und Befehl lernen, können sie nicht einfach am Feierabend den Schalter umlegen und Demokratie leben.
Für Hannah Arendt stellten Macht und Gewalt zwei Gegensätze dar. Gewalt wendet an, wer herrschen will, braucht dazu Instrumente. Macht entsteht, indem Menschen gemeinsam agieren. Während Rom mit Gewalt herrscht, um die Untergebenen zu bezwingen, herrscht Jesus machtvoll, indem er in Gemeinschaft wirkt: In Gemeinschaft mit Gott und gemeinsam mit jenen, die ihm folgen.
Gott segne unsere Arbeit!
Gott segne sie!
Amen!
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