Foto: pixabay.com/dodo71
Corona, Naturkatastrophen oder Gewalttaten prägen die Nachrichten und sind die Heimsuchungen unserer Tage. Sie zeigen uns, dass wir unser Leben nicht vollständig kontrollieren können. Heimsuchung fordert uns auf, loszulassen.
Der folgende Text ist eine Adventspredigt von KAB Diözesanpräses Michael Wagner zum
Evangelium nach Lukas 1,3945:
In diesen Tagen machte sich Maria auf den Weg
und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa.
Sie ging in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabet.
Und es geschah, als Elisabet den Gruß Marias hörte,
hüpfte das Kind in ihrem Leib.
Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt
und rief mit lauter Stimme:
Gesegnet bist du unter den Frauen
und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.
Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?
Denn siehe, in dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte,
hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib.
Und selig, die geglaubt hat,
dass sich erfüllt,
was der Herr ihr sagen ließ.
Heimsuchung. Das ist ein ungewohntes Wort. Fast ist es in Vergessenheit geraten. Doch angesichts dramatischer Ereignisse, wie der Amoklauf in Kronsberg, Norwegen, in dem sich schiere sowie richtungslose mörderische Gewalt entlud, weil ein Mann willkürlich Menschen mit Pfeil und Bogen erschossen hat, angesichts der Naturkatastrophen, die Existenzen und Leben mit in den Abgrund ihrer Fluten rissen, erlebt der Begriff Heimsuchung eine Wiedergeburt. Die eigentliche Stunde seiner Neubelebung schlug beim Ausbruch von Covid-19. Dessen wuchtige Folgen vermag kaum jemand zu fassen. Sie durchdringen alle Bereiche des Lebens, bringen Menschen ins Schleudern.
Die Kontrolle geht vielen verloren. Weder Politik noch technische Erneuerung können dem beikommen. Dem Schicksal ausgeliefert zu sein, mich ohnmächtig zu erfahren gegenüber einer übermächtigen Kraft; das Gefühl zu haben, den Rand des Machbaren erreicht zu haben, vor einem Abgrund zu stehen, versuche ich mit dem Begriff Heimsuchung zu fassen.
Heimsuchung. Dies beschreibt auch das Evangelium von heute: Die Heimsuchung Mariens. Beide Frauen Maria und Elisabeth erleben dies. Ein Engel suchte sie heim. Mit seiner Nachricht überfiel er die Frauen. Von jetzt auf gleich war ihre Existenz in Frage gestellt. Ein Einbruch in ihr Leben fand statt, der alles veränderte. Dem Ehemann Elisabeths, dem Priester Zacharias, verschlägt es die Sprache. Neun Monate verstummt er. Elisabeth verbirgt sich fünf Monate vor den Menschen. Marias Lage war wohl noch dramatischer. Die wohl 14-Jährige war einem Mann versprochen. Ihre Schwangerschaft konnte zur Verstoßung führen.
Was Heimsuchung aktuell bedeuten könnte, zeigen sowohl die doppelte Ankündigung der Geburt wie auch die Solidarität der beiden schwangeren Frauen auf. Heimsuchung bedeutet loslassen. Denn Heimsuchung zerbricht ein falsches Verständnis von Autonomie. Ich bin unfähig mein Leben vollständig zu kontrollieren. Vielmehr bin ich eingebunden in ein Größeres Ganzes. Mein Agieren, Tun und Gestalten sind begrenzt, ich muss immer auch reagieren, empfangen und Geschehen lassen.
Heimsuchung prüft mich: Wie gehe ich mit dem Unfassbaren um? Maria gerät in Angst und Schrecken, vom Mann verlassen und von der Gesellschaft geächtet werden zu können. Doch anstatt zu verzweifeln, stellt sie sich dem Unfassbaren. Daraus erwächst ihr eine ungeahnte Kraft. Sie gebiert ein Selbstbewusstsein, das aus ganz anderen Quellen schöpft, als aus ihrem Ego. Maria fühlt sich angesehen und von Gott erhoben. Marias Seele wird quasi zur Hebebühne Gottes! Im Magnifikat, das direkt dem Evangeliumsausschnitt folgt, erhebt sie Gott–und Gott erhebt sie. Indem sie Gott groß macht, gewinnt sie an Größe, nimmt ihre Ausstrahlungskraft zu. Gott besucht Maria. Er sucht sie heim. Dadurch findet Maria heim, lebt beheimatet in Gott.
Heimsuchung ist der Ort, der die Fragen zulässt, die mein Selbst anfechten. Wo hebe ich Gottes verborgene Gegenwart an die Oberfläche? Wo nehme ich seine Gegenwart an, wo lasse ich sie durch Gott ausfüllen?
Das Magnifikat zeigt exemplarisch auch für mich: Christliches Beten dreht sich nicht primär um mein Selbst, um Selbstreflexion, um Selbstbeschau. Im Beten rufe ich ein fremdes Gegenüber an. Ein Gegenüber, das sich von mir nicht vereinnahmen lässt. Gott ist mein Gegenüber, er findet sich selbst indem, was mich bedrängt. Indem, was sich mir auch als Unheil offenbart, will Gott mir einen Weg zu sich hin bahnen.
Im Gebet darf ich auf Gott blicken, darf von ihm alles erwarten, aber nichts erzwingen. Das Gebet ist Ort der Heimsuchung. Der Ort, an dem Gott sich wandelt. Weder das Ansammeln und das Horten von Toilettenpapier, noch der Konsum von Daily Soaps oder das laute Schreien in den Sozialen Medien befähigen mich, meine Angst zu überwinden. Allein, wenn ich Gottes Ruhe gegenübertrete, wenn er zu mir kommen darf, wandelt sich meine einengende Angst in weitmachendes Vertrauen. So will er sich weihnachtlich in mir neu gebären.
Die derzeitigen Krisen bohren tiefe Fragen in das Selbstverständnis des modernen Menschen. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung. Das behauptet die Bibel übrigens an keiner Stelle. Die Krone der Schöpfung stellt der Sabbat dar. Ihn preist das Buch Genesis als Krönung. Sabbat heißt loslassen. Der Sabbat und für uns Christen der Sonntag können uns zum Dreh- und Angelpunkt werden, neu zu denken und loszulassen. Unser Sinneswandel muss sich grundlegend wandeln, unser Leben völlig neu ausrichten.
Heimsuchung lässt mich erkennen: Indem ich zurückblicke, lerne ich meinen Weg nach vorne zu gehen. Wieder zu erkennen, ich als Mensch bin Teil der Schöpfung. Mit allem, was lebt, teile ich denselben Atem. Ich bin Glied der Kette eines Seins in Gott. Wo immer eines dieser Glieder reißt, ist die gesamte Kette des Seins gefährdet. Wo Mitgeschöpfe missbraucht und gequält werden, nehmen Menschen Schaden an Leib und Seele, gefährden sie den eigenen Fortbestand.
Heimsuchung fordert auf, Wandel aktiv zu leben. Geben wir Gott die Chance, uns heimzusuchen. Die Türen unserer Herzen zu öffnen, in der er einzuziehen sucht. Geben wir Gott die Chance, ihn zu finden in unserem Beten, Tun und Arbeiten. So werden wir mit ihm, den Mitmenschen, über uns selber hinauswachsen, schöpferisch neues Leben gebären. Heimsuchung. Gott sucht uns heim, damit es wahre Weihnacht werde auf der Welt.
Amen.
Abonnieren Sie unseren monatlichen Newsletter:
Verbandszeitschrift & Bildungsprogramm
Aktuelle Ausgaben hier herunterladen:
16. Januar 2024 bis 30. Juni 2025
80336 München - online/Präsenz
BieBiR: Bildung für ehrenamtliche Bildungsreferenten/innen
18. Januar 2025, 10:00 Uhr
80634 München - Renatastraße 7
Volks- und Weltmusik-Workshop mit Heini Zapf
20. Januar 2025, 18:00 Uhr
80336 München - Pettenkoferstr.8
Grundkurs Krisenbegleitung
27. Februar 2025, 18:00 Uhr
80336 München - Pettenkoferstr.8
Aufbaukurs II Krisenbegleitung
3. April 2025, 10:30 Uhr
82327 Tutzing - Buchensee 1
Sorgearbeit als Teil von Wirtschaft denken!
24. August 2025, 15:00 Uhr
25992 List/Sylt - Klappholttal
Gospelworkshop an der Nordsee: Singen mit Leib und Seele auf Sylt