Erzbischof Kardinal Reinhard Marx. Foto: Erzbischöfliches Ordinariat München (EOM) / Lennart Preiss
„Die Wertorientierungen und ethischen Grundlagen unseres Gemeinwesens kann der Staat nicht aus sich heraus erzeugen … . (…) Und deswegen sollen Christinnen und Christen sich einmischen und engagieren: in ihren Kommunen, in der Wirtschaft, in den Unternehmen, in der Kultur, im Staat.“ Hirtenwort des Kardinals zu Beginn der österlichen Bußzeit mit Bezug auf die Katholische Soziallehre.
„Bei allem politischen Handeln und allen Programmen, muss die Würde aller Menschen immer im Zentrum stehen. (…) Es gibt keine Rassen, es gibt nur Menschen mit gleicher Würde!“
„Aus diesem Prinzip der gleichen Würde aller Menschen folgt die Herausforderung – so unvollkommen es immer sein mag –, eine Ordnung zu schaffen, ein Gemeinwesen, in dem alle eine Chance haben, gerecht und gut leben zu können, jetzt und in der Zukunft. Als Christen wissen wir: Es gibt keine vollkommene Welt. Wir sind Geschöpfe und nicht Gott. Aber die Welt kann immer verbessert werden, sie muss nicht so bleiben, wie sie ist.“
Hier lesen Sie den gesamten Hirtenbrief im Wortlaut.
Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum München und Freising,
diesen Brief an Sie habe ich schon vor der Bundestagswahl verfassen müssen, damit er rechtzeitig zum ersten Fastensonntag ankommt. Doch vierzehn Tage nach der Wahl wird sich vermutlich noch keine neue Regierung gebildet haben und kein Koalitionsvertrag unterzeichnet sein. Und zwischen den Parteien und in der Öffentlichkeit wird weiter darum gerungen werden, wie die Zukunft unseres Landes aussehen soll. Dabei geht es um wichtige politische Weichenstellungen und auch um den Zusammenhalt, das Miteinander in unserem Gemeinwesen.
Das sage ich gerade angesichts des schrecklichen Anschlags, den wir in München am 13. Februar erlebt haben. Mich hat bewegt, wie die Angehörigen der ermordeten Amel und Hafsa dazu aufgerufen haben, diesen Anschlag nicht politisch zu missbrauchen, und Hass und Polarisierung nicht zu verstärken. Denn eines ist besonders wichtig, wenn wir weiterhin in Freiheit und Demokratie miteinander leben wollen: Unsere Gesellschaft darf nicht gespalten werden, sie muss in Solidarität gemeinsam weiter gehen.
Und was hat die Kirche mit alldem zu tun? Muss die Sorge um die Demokratie, in der wir leben, auch uns herausfordern? Auf jeden Fall! Denn das Evangelium ist nicht nur eine Botschaft, die von der Hoffnung auf das ewige Leben spricht, sondern die ganz konkret in die Welt blickt und die Welt als Gabe und Aufgabe Gottes versteht. Die Katholische Soziallehre, die sich im Laufe der letzten Jahrhunderte entwickelt hat, war immer eine konkrete Anwendung des Evangeliums in der jeweiligen Zeitstunde. Die Botschaft vom Reich Gottes, die für Jesus so zentral ist, betrifft auch die Fragen von Gerechtigkeit, Lebensschutz und Lebenschancen für alle.
Die Kirche kann und will Politik nicht ersetzen. Staat und Kirche haben unterschiedliche Aufgaben, sind aber doch eng aufeinander bezogen und im Dialog verbunden. Die Wertorientierungen und ethischen Grundlagen unseres Gemeinwesens kann der Staat nicht aus sich heraus erzeugen, sondern greift auf Voraussetzungen zurück, die den Staat erst möglich machen. Diese Grundüberzeugungen entstehen im Miteinander der Menschen, in der Familie und eben auch in den für unser Land weiterhin bedeutsamen christlichen Kirchen. Und deswegen sollen Christinnen und Christen sich einmischen und engagieren: in ihren Kommunen, in der Wirtschaft, in den Unternehmen, in der Kultur, im Staat. Und die Bischöfe haben durchaus den Auftrag, die Prinzipien unseres Gemeinwesens in Erinnerung zu rufen und deutlich zu machen, wie aus der Perspektive des Evangeliums mehr Klarheit gewonnen werden kann auch für notwendige konkrete Schritte des politischen Handelns.
Vielleicht ist es etwas ungewöhnlich, dass ich deswegen zu Beginn der Österlichen Bußzeit einige Themen aus dem Bereich der Katholischen Soziallehre anspreche, die für die Regierungsbildung und für die Parteien, die unser Land regieren wollen, wichtig sind.
1. Bei allem politischen Handeln und allen Programmen, muss die Würde aller Menschen immer im Zentrum stehen. So steht es im Artikel 1 des Grundgesetzes, der im Grunde die christliche Auffassung von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen aufnimmt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und diese Würde gilt vom ersten Augenblick des Daseins bis zum natürlichen Tod! Dieser einfache und doch so herausfordernde Satz, ist die alles entscheidende Leitplanke. Die Überzeugung, dass wir alle Geschwister sind, dass alle Menschen wirklich eine Menschheitsfamilie sind, gehört zum Glauben der Kirche. Und deswegen haben die deutschen Bischöfe schon im letzten Jahr deutlich gesagt: „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar.“
So sehr sich auch im Lauf der Geschichte die Kirche und die Christinnen und Christen in zerstörerischen Nationalismen, in Gewalt und Rassenwahn verstrickt haben, so sehr war und ist der Glaube der Kirche von Anfang an ein anderer: Die Kirche hat immer alle einbezogen, alle Völker und Kulturen, alle Sprachen, alle Länder. Es gibt keine Rassen, es gibt nur Menschen mit gleicher Würde! Und deshalb ist eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit Parteien und Bewegungen, die in weiten Teilen rechtsradikal und völkisch national denken, für demokratische Parteien inakzeptabel.
2. Aus diesem Prinzip der gleichen Würde aller Menschen folgt die Herausforderung – so unvollkommen es immer sein mag –, eine Ordnung zu schaffen, ein Gemeinwesen, in dem alle eine Chance haben, gerecht und gut leben zu können, jetzt und in der Zukunft. Als Christen wissen wir: Es gibt keine vollkommene Welt. Wir sind Geschöpfe und nicht Gott.
Aber die Welt kann immer verbessert werden, sie muss nicht so bleiben, wie sie ist. Deswegen ist für uns klar, dass wir nicht in einen billigen Pragmatismus oder gar Zynismus verfallen, nach dem Motto: „Man kann ja doch nichts machen.“ Und wir widerstehen auch der Versuchung, Utopien von einem Paradies auf Erden oder von einer klassenlosen Gesellschaft zu verbreiten. Aber: Wir sind Pilgerinnen und Pilger der Hoffnung. Denn Hoffnung bedeutet, dass die Welt nicht so bleiben muss, wie sie ist, sie kann zum Guten verändert werden. Wenn wir Chancen für alle Menschen wollen, dann gilt das eben für die ganze Menschheitsfamilie, und deshalb ist der Aufbau einer globalen Sozialen Marktwirtschaft wichtig, eine Ordnung, die es ermöglicht, dass alle miteinander in fairer Weise in einen Austausch treten, so dass arme und schwache Länder nicht beiseite gedrückt werden, weil sie nicht produktiv genug erscheinen nach den Maßstäben eines nationalen Kapitalismus.
Auch von daher waren gerade die Christinnen und Christen Protagonisten der europäischen Einheit, des Miteinanders der Völker, in der Überzeugung, dass Nationalismus Krieg bedeutet. In besonderer Weise wird das in der Bedrohung unseres Planeten durch den Klimawandel sichtbar. Im Engagement für die Bewahrung der Schöpfung müssen deshalb alle Länder zusammenarbeiten, und das muss auch die Agenda unserer Regierung sein. Sonst werden Ungleichheiten größer werden. Eine Politik, die Chancen für alle anstrebt, muss im eigenen Gemeinwesen soziale Gerechtigkeit und gute wirtschaftliche Entwicklung voranbringen, aber nie gegen andere, sondern immer mit anderen zusammen, und dabei besonders die Armen weltweit im Blick haben.
3. Das Thema Migration und Asyl hat diesen Wahlkampf besonders beherrscht. Vergessen wir nicht: Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Migration - von Anfang an. Menschen haben immer nach besseren Lebensmöglichkeiten gesucht, so ist Europa entstanden. Angesichts der wachsenden Ungleichheiten in der Welt und angesichts des Klimawandels wird diese Bewegung der Migration weitergehen. Wir müssen also Lösungen finden für eine geregelte Migration, die die aufnehmenden Staaten nicht überfordert, und zugleich für Entwicklung und Hilfe in den Ländern sorgen, in denen die Hoffnungslosigkeit für viele Menschen so groß ist, dass sie nur in Flucht und Auswanderung eine Chance sehen können. Ein Europa, das sich wie eine Festung militärisch gegen Menschen in Armut und auf der Flucht verteidigt, ist nicht nur für mich eine furchtbare Vorstellung. Ich weiß, dass es für diese Fragen keine einfachen Antworten gibt. Und deswegen sollten auch die Parteien nicht versuchen, nur schlichte Parolen zu verbreiten.
Es wurde oft gesagt: Wir müssen Humanität und Ordnung zusammen sehen. Genau darum geht es, und darum bitte ich eindringlich: Es kann nicht sein, dass Menschen, die vor Hunger und Klimakatastrophen, Verfolgung, Folter, Krieg und Gewalt fliehen, an unseren Grenzen zurückgeschickt werden. Wohin auch? Und vergessen wir nicht, wie sehr unser Land angewiesen ist auf Menschen, die zu uns kommen. Denn Wohlstand und Chancengerechtigkeit werden die kommenden Generationen nur haben, wenn es in unserem Land eine wirkliche Willkommenskultur gibt, in der Menschen, die bei uns arbeiten und sich integrieren wollen, positiv begrüßt werden. Wenn Fremde als Bedrohung gesehen werden, als Menschen, die nicht dazugehören, ist das nicht nur unchristlich, sondern unvernünftig. Die Migrationspolitik muss viel umfassender gedacht und positiver vermittelt werden, es braucht mehr Engagement für Integration und Miteinander. Ich danke deshalb den vielen in der Caritas, in Einrichtungen, in Verbänden und in unseren Gemeinden, die sich jetzt schon so intensiv engagieren! Es ist jedoch nicht nur eine Aufgabe von freiwilligen Helferinnen und Helfern, sondern es ist eine Aufgabe des ganzen Gemeinwesens.
Natürlich gibt es noch viele andere Themen, die eine neue Regierung anpacken muss: eine gerechte Alterssicherung, die Zukunft der Pflege, Fragen der Sicherheit und Verteidigung, und vieles andere mehr. Ich hoffe und bete, dass in den nächsten Wochen konstruktiv miteinander gerungen wird um den bestmöglichen Weg für unser Gemeinwesen.
Politik ist immer etwas Vorläufiges, und zugleich wichtig und notwendig. Am ersten Fastensonntag hören wir in der Lesung aus dem Buch Deuteronomium, was die Israeliten sagen sollen, wenn sie die Früchte des Landes vor Gott hintragen. Dann sollen sie sich erinnern und bekennen: „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer“ (Dtn 26,5). Also: Ich war ein Migrant, ein Flüchtling. Wenn wir weit zurückgehen, dann waren wir das alle einmal: von irgendwoher und irgendwohin.
Und das Evangelium dieses Sonntags spricht von der Versuchung Jesu, ein politischer Messias zu werden; also davon, die Botschaft vom Reich Gottes und die Politik gleichzusetzen. Jesus widersteht dieser Versuchung und weist uns auf den Weg der Hoffnung. Papst Franziskus hat das Heilige Jahr 2025 unter dieses Leitwort gestellt: „Pilger der Hoffnung.“ Liebe Schwestern und Brüder, genau das ist unsere Aufgabe und Berufung!
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Österliche Bußzeit und grüße Sie herzlich
Ihr
Reinhard Kardinal Marx
Erzbischof von München und Freising
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