Jeder Mensch hat einen tief sitzenden wunden Punkt. Er soll uns nicht dazu bringen, Aggressionen gegen andere oder uns selbst zu richten. Wie der Auferstandene können wir Leiden und Scheitern annehmen – und uns in Menschlichkeit üben.
Von Diakon Michael Wagner, KAB-Diözesanpräses
17.04.2020
Es gibt einen Punkt, der alle Menschen berührt, den ein jeder besitzt. Mag er auch verschieden aussehen, sich an unterschiedlichen Stellen befinden oder jeweils individuell geartet sein. Ich meine den wunden Punkt, der immer dann entsteht, wenn ich Verletzungen oder Enttäuschungen, sowie Ablehnung oder Demütigung erlebe. Ein Erleiden, das seine Spuren hinterlässt. Das, tief in meinem Inneren, immer wieder Schmerzen verursacht.
Mancher erfährt das mit der Geburt. Niemand vermag sich auszusuchen, zu welcher Zeit oder an welchem Ort er hineingeboren wird. Niemand entscheidet sich in Armut oder Reichtum, in Krieg oder Frieden, gesund oder krank aufzuwachsen. Dennoch schlagen die äußeren Umstände erste Wunden. Da fehlen einem Menschen die Chancen auf gute Bildung, weil es am nötigen Wohlstand fehlt. Schlechte Bildung führt sehr häufig dazu, ausgegrenzt und in seiner Entfaltung eingeengt zu werden.
Ein wunder Punkt findet sich auch darin, dass ich nicht mehr mitzuhalten vermag, mit den hohen, schnellen und extremen Leistungsanforderungen in der heutigen Gesellschaft. Nicht selten kommt es zu seelischen oder körperlichen Erkrankungen.
Besonders in diesen Tagen ist ein wunder Punkt sehr virulent. Es sind besonders die sogenannten „systemrelevanten“ Berufe, die unter schlechten Arbeitsbedingungen und unter schlechter Bezahlung leiden. Unfaire Bezahlung, Niedriglohn, prekäre Arbeit schlagen Wunden, weil Menschen trotzt Arbeit sich und ihre Familien nicht ernähren können. Tafeln müssen herhalten, weil die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandertriftet, da der Staat nicht willens ist, seine Bürger mit dem Nötigsten zu versorgen. Die Gefahr, dass die finanziellen Wunden, die die Corona Krise schlägt, bei diesen Menschen tiefer sind, ist nicht von der Hand zu weisen.
Solch Versagen des Staates und seiner neoliberalen Wirtschaftsdoktrin schlägt tiefe Wunden. Politisch Verantwortliche ähneln hier augenfällig den Jüngern aus Jesu Zeit. Als es ernst wurde, entflohen sie ihrer Verantwortung. Sie ziehen sich zurück, verschließen Fenster und Türen, kapseln sie sich ab von der Umwelt. Armut offenbart immer ein Versagen derjenigen, die die politische Verantwortung tragen. Diese enttäuschte Erwartung, nicht erfolgreich regiert zu haben, davor werden die Augen verschlossen und die Herzen sicherheitshalber verbarrikadiert.
Wunden wirken. Wundschmerz treibt den Menschen an. Zorn, Bitterkeit sowie Hass, Aggression sowie Depression, Todesstarre: All das sind Verhaltensweisen, in die Menschen durch ihre Wunden gedrängt werden. Eine Verwundung wirkt in meiner Tiefe. Der wunde Punkt entzieht sich meinem lichten Bewusstsein, all meinem Denken, Handeln und Tun. Er ist der dunkle Gegenpart von all dem, was ich bewusst tue.
Wunden treiben Menschen dazu, anderen Menschen selbst Wunden zu zufügen. Der Verwundete wird selbst zu einem, der verwundet. Dabei gerät ein Mensch, dem eine Verletzung zugeführt wird, leicht in die Gefahr, bei allem, was er tut, die Schuld nur noch beim Gegenüber zu sehen. Wenn er seine Verletzung weitergibt, sieht er die Schuld nicht bei sich, sondern im Opfer. Die Konsequenz: Ein Verwundeter gibt an andere Menschen nur das weiter, was andere Menschen ihm angetan haben. Wen wundert es, dass die gesellschaftliche Verrohung sich heute derartig verbreitet?
Wen wundert es, dass der Narzissmus einiger der heute Mächtigen von Wunden genährt wird? Um die Angst vor der eignen Schwäche, der eignen Verwundbarkeit zu übertünchen, schminken sie sich schön strahlend heraus. Um die Schwäche zu überspielen, spielen sie den starken Mann; um die leise Stimme des Selbstzweifels in ihrem Inneren zu übertönen, brüllen sie verletzende, diskriminierende und menschenverachtende Worte aus, bis den Zuhörern die Ohren schmerzen.
Manche Verwundung bewirkt jedoch das genaue Gegenteil. Es gibt den, der um seine Verletzung weiß und sie auf gar keinen Fall weitergeben möchte. Dieser verwundete Verdränger zieht sich lieber zurück, vermeidet alles. Ja, er unternimmt einfach nichts mehr. Nur, um ja keinen Fehler zu machen. Der Welt hat er innerlich gekündigt, er lässt lieber die anderen machen. Äußerlich bleibt er seiner Rolle treu. Manche vergraben sich in sich selbst, schaufeln sich ein lebendiges Grab, unfähig, Gefühle auszuleben. Emotionen werden erstickt. Seine einengende Angst, seine Verletzung weiterzugeben, sperrt ihn ein, macht ihm zum Gefangenen seiner selbst. Wie das Karnickel, das den Fuchs fürchtet, verbarrikadiert er sich in seinem Bau: Abschotten, die Grenzen dichtmachen. Solch autoaggressives, passives Leiden steht immer unter hoher Explosionsgefahr. Solch Autoaggression vermag sich rasant gegen den Fremden, den Anderen zu richten.
All das macht deutliche: Eine Wunde schafft Energie. Dem wunden Punkt wohnt eine Kraft inne, die entweder nach außen gegen andere oder nach innen gegen sich selbst wirkt. Immer wenn eine solche Energie im Spiel ist oder sich solcherlei Kraft wirksam ausströmt, spricht die Bibel interessanterweise von der dynamis, also einer Dynamik. Im Deutschen verwendet man für jene biblische dynamis meist das Wort: Wunder. Ein Wunder hat immer eine Kraft, die etwas zum Guten wendet. Folglich erfährt das Geschehen im Evangelium eine eigenartige Wende.
Die Jünger erblicken in ihrem verbarrikadierten Leidenszustand den Auferstandenen. Er lebt, tritt ihnen mit seinen Wunden entgegen. Sichtbar sind seine wunden Punkte, die Wunden seiner Niederlage, seiner Schmach, seines Kreuzestodes. Jene Wunden, aus denen am Kreuz Blut und Wasser herausfließen. Blut und Wasser, jene Flüssigkeiten, die ausfließen bei einer Geburt. Der Schöpfer zeigt seine Wunden. Die Wende der Geschichte findet statt! Der Auferstandene gebiert Schöpfung völlig neu!
Dieses neu geborene Lebenslicht entflammt die Jünger, flackert auf in ihren Herzen, ihr Leben erhellt sich, strahlt auf zu neuer Schöpfung. In den Wunden des Auferstandenen offenbart sich sein göttliches Da-Sein. Das wirkt bis heute, hier und jetzt. Der Auferstandene identifiziert sich in seinen Wunden mit allen Leidenden und Verwundeten. Jede Wunde, die einem Menschen geschlagen wird, wird Christus selbst zugefügt. Mein wunder Punkt findet sich wieder in seinen Wundmalen, wird Teil des Göttlichen Ganzen.
Der Verwundete heilt. Das offenbart er am Apostel Thomas. Dieser ist traumatisiert. Die Augen sind ihm verschlossen vor der Wirklichkeit. Unfähig, sich dem Leben, seinem körperlichen Empfinden zu stellen. Der Verwundete heilt diesen Thomas ähnlich, wie es heute Fachleute tun, die mit traumatisierten Menschen arbeiten. Der Auferstandene konfrontiert Thomas mit sich, mit ihm sowie mit seiner Gegenwart. Er macht sich körperlich fassbar, spürbar, greifbar.
Wer so erlebt, dass Christus lebt, erblüht zu neuem Leben. Christus führt Thomas zur Anerkennung der Realität: Ja, es ist wahr, ich bin verwundet und verletzt. Indem ich die Wunden Christi erfassen darf, versetzt mich das in die Lage, meine Wunden zu erfassen und auszuhalten. Ja, sie zu akzeptieren. Der Auferstandene heilt Thomas. So schenkt er auch jedem von uns heilendes Leben. Indem ich Leiden und Scheitern, Wunden, ja meinen wunden Punkt anerkenne und geborgen weiß, fühle ich tiefer in mich hinein. Hinein in mein dunkles Unbewusstes.
Bild: "Der ungläubige Thomas" von Michelangelo Merisi da Caravaggio. GK I 5438 / Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg / Hans Bach. Quelle: Pfarrbriefservice.de.
Wunden heilen auch heute, wenn Menschen miteinander in Beziehung treten. Wenn sie erfahren, was sie ängstig, erkennen, was sie krank macht, ihre alltäglichen Sorgen wahrnehmen und ernst nehmen. Der Schmerz des Menschen mir gegenüber wandelt sich zu meinem eigenen Schmerz. Der Wunde Punkt ist wie ein Treffpunkt der Gemeinsamkeit. Hier erfährt jeder von uns seine eigene Sterblichkeit.
Den wunden Punkt bei einem Mitmenschen zu entdecken, stellt keine große Kunst dar. Er ist leicht aufspürbar. Habe ich ihn, habe ich Macht. Eben darin spiegelt sich das Versagen der heutigen Zeit. Die Menschlichkeit des Menschen zu verleugnen. Geld und materieller Wert, den ich zu bemessen vermag, stelle ich über den Menschen. Mit dieser Doktrin zwinge ich jeden in die Knie, schlage ihm die Wunden der Bedeutungslosigkeit, lasse ihn passiv sterben.
Der Auferstandene stellt uns jedoch eine andere Aufgabe: Die Wunde als Wendepunkt zu sehen, die Menschlichkeit des Menschen zu akzeptieren. Sein und mein wunder Punkt sollen zu etwas dienen. Den Menschen freimachen und heilen, uns befähigen, einander verwundbar zu begegnen. Wir sollen einander als Schwester oder Bruder dazu verhelfen, erhobenen Hauptes, mit aufrechtem Gang und auf Augenhöhehier auf Erden zu leben. Wir sollen dazu beitragen, dass die Wunde der Menschlichkeit die nötige Kraft verleihe, um zum täglichen Wunder neuer Auferstehung zu werden.
Amen.
Dieser Text bezieht sich auf das Evangelium zum 2. Sonntag der Osterzeit (Johannes 20,19-31). Den Auszug aus dem Evangelium können Sie hier als PDF herunterladen.
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